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Eine kleine Operneinführung 

Als sich am 9. Februar 1895 im Pariser Palais Garnier anlässlich der Uraufführung von La Montagne noire aus der Feder der französischen Komponistin Augusta Holmès der Vorhang zum ersten Mal hob, war dies eine Sensation! Seit 1694 kamen an jenem traditionsbewussten und zugleich prestigeträchtigen Opernhaus gerade einmal fünf Bühnenwerke von Komponistinnen zur Aufführung. Auch Komponisten rangen um die Annahme ihrer Werke, stand die Oper in der Gattungshierarchie doch nach wie vor an erster Stelle. 

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Dass wir heute Kenntnis über die Pariser Uraufführung haben, ist nicht selbstverständlich. Noch bis Mai 2008 galt der dritte und vierte Akt der Aufführungspartitur als verschollen. Erst umfangreiche Recherchen im Rahmen ihrer Doktorarbeit führten Nicole K. Strohmann auf die Spur. Mit der Wiederentdeckung konnte auf einer breiten Quellenbasis die Entstehung der Oper von den ersten handschriftlichen Ideen bis zur finalen Aufführungsfassung nachvollzogen werden. 

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So fällt die Erstehung der Textvorlage und die musikalische Konzeption der Oper in die frühen 1880er-Jahre – Holmès datiert das eigenhändig signierte Particell auf den 23.7.1884 – und kann gegen 1885 als zunächst abgeschlossen gelten. In den Folgejahren bemühte sich die Komponistin um Aufführungen in Paris und Brüssel, die aufgrund eines Direktorenwechsels im einen und finanzieller Engpässe im anderen Fall scheiterten, ehe 1894 die Operndirektion des Palais Garnier das Bühnenwerk annahm. 

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Die Überlieferung der Aufführungspartitur ist für uns heute auch deswegen so erhellend, weil sie sämtliche in rotem und blauem Farbstift vermerkten Eintragungen des Dirigenten Paul Taffanels enthält. Wir erfahren Details zum Tempo, zur Dynamik, zu Einsatzbeginn und -ende der Bühnenmusik und Vorhängen und vielem mehr. Vor allem jedoch enthält sie eine für die Dramaturgie der Oper kaum zu überschätzende Änderung des Opernfinales: Holmès konzipierte La Montage noire als Drame lyrique en quatre actes et cinq tableaux. Noch kurz vor der Uraufführung wurde das zweite Tableau des vierten Aktes gestrichen, was die Aussage der Oper in eine gänzlich andere Richtung lenkte. In der diesjährigen Produktion werden wir das von der Komponistin intendierte Finale hören, welches auch Eingang in die im selben Jahr distribuierte Opernpartitur (Paris: Philippe Maquet 1895) fand, während die gekürzte Aufführungsfassung als Supplement erschien.

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Stilistisch steht La Montagne noire in der Tradition der französischen Weiterentwicklung der Grand Opéra nach Meyerbeer und thematisiert einen Privatkonflikt vor einem historischen Hintergrundsujet, dem Unabhängigkeitskrieg zwischen Montenegro und dem Osmanischen Reich. Besonders evident wird Holmès‘ Rekurs auf jenes Traditionsmodell in der Exponierung des Konflikts: Gerade in der Unvereinbarkeit von Mirkos privatem Interesse und der politischen Notwendigkeit zeigt sich die Verbindung zur Grand opéra, deren Grundkonstellation – der Kampf eines zwischen zwei Welten stehenden, ‚schwankenden‘ Helden – bereits in Meyerbeers Robert le diable, in Saint-Saëns Samson et Dalila, in Wagner Tannhäuser oder in Chaussons Le Roi Arthus das dramaturgische Gerüst formte. Zweifelsohne ist jener unerwartete Augenblick, nachdem Aslar und Mirko ihren Brüderschaftsschwur („Je jure devant dieu de t’aimer come un frere“ | „Ich schwöre vor Gott Dich wie einen Bruder zu lieben“, Akt 1) abgeleistet haben und das Volk zum Siegesfest übergehen will, Yamina aber plötzlich als türkische Gefangene herbeigeschleppt wird, das entscheidende konfliktkonstituierende Moment. Der Topos des gestörten Fests trägt hier unverkennbar die Funktion, auf den herannahenden Konflikt zu verweisen. Mirko verfällt ihrer Schönheit und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Jene verhängnisvolle, da für den Helden tödliche Erfahrung, die auch Aslar nicht zu verhindern vermag, liegt mithin in der Anlage der Figur der Yamina als femme fatale begründet. Dieser Typus etablierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der französischen Oper und trat am deutlichsten in Figuren wie Carmen, Dalila, Messaline und Thaïs in Erscheinung. Holmès verbindet ihn mit exotischer Couleur, womit sie gleichsam die Exotismusmode des Fin de siècleaufgreift, die spätestens seit der Pariser Weltausstellung von 1889 neuen Aufschwung erlangte und sich in vielen Werken der Zeit niederschlug. Mit Schönheit und Tanz, den typischen Verführungsmitteln der femme fatale – bekanntlich verfallen auch die männlichen Gegenspieler Judiths und Dalilas deren Schönheit noch bevor die Frauen selbst aktiv werden, während Carmen Don José durch ihren Tanz beeindruckt –, entlockt sie Mirko ein Liebesgeständnis („Tu m’appartiens, je suis ta proie“ | „Du gehörst mir, ich bin deine Beute“, Akt III). Bereits beim Siegesfest im ersten Akt versteht sie es, Mirkos Aufmerksamkeit von seiner Verlobten Héléna auf sich zu lenken. Yaminas Verführungsstrategien werden zunehmend provokanter: Als Mirko ihren Fluchtplan ausschlägt, droht sie ihm mit Liebesentzug, woraufhin der ohnehin wehrlose und wankelmütige Held einlenkt. Yamina ist wie Kundry und Dalila eine Negativfigur, weil sie aktiv das Böse vertritt. Ihre Fatalität wird jedoch erst am Ende des dritten Aktes evident, als sie Aslar niedersticht, der dem flüchtenden Paar gefolgt war, um (wie Frédéric Gérald in Delibes Lakmé) Mirko zur Rückkehr zu bewegen. Die femme fatale indes wäre keine, würde sie nicht ihre Ziele bis zuletzt verfolgen: Und so finden wir im 4. Akt Mirko und Yamina umringt von tanzenden Haremsdamen im heimischen Garten Yaminas wieder. Im Rausch des ‚orientalischen‘ Festes versetzt sich Mirko in eine bessere, in seine Wunschwelt, in der er seine zuvor ungelebten Sehnsüchte erfüllt sieht und somit im übertragenen Sinne der Flucht Yaminas vor dem montenegrinischen Volk mit der Flucht vor der eigenen Realität fortsetzt – freilich nicht ohne Konsequenz. Am Ende verliert er alles, was ihm einst lieb und teuer war: seine Ehre, seine Liebe und sein Leben. 

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Gleichwohl geht das dramaturgische Konzept der femme fatale erst durch Yaminas Gegenspielerin Héléna auf. Sie personifiziert die entgegengesetzten Charakterzüge und steht für Tugend, Raison und Pflicht ein, ist aber im Grunde zu schwach, um ihre Interessen adäquat durchzusetzen und findet in Aslar ihren Exekutor. Holmès zeichnet sie blass und zerbrechlich, die ähnlich wie Manon (1884), Esclarmonde (1889) oder später Mélisande (1902) die kaum zu verkennenden Merkmale einer femme fragile trägt und symbolträchtig in der Uraufführung mit einem einfachen Kostüm in hellen Farben ausgestattet war. Hoffnungsvoll wartet sie auf ihren Helden, und als dieser aus dem Krieg zurückkehrt und sich in Yamina verliebt, ist dies der einzige Moment, in dem Héléna in Aktion tritt. Sie glaubt ihren Verlobten zurückgewonnen zu haben, als sie ihm vor dem bedeutungsvollen Kreuz am Wegesrand das gemeinsame Heiratsversprechen erneut entlocken kann, doch muss sie bereits im nächsten Augenblick mit ansehen, wie das Liebespaar die Flucht ergreift. Ohnmächtig sinkt sie zu Boden. Erst im Vergleich zur Naivität und Zerbrechlichkeit Hélénas wird die Stärke ihrer Rivalin Yamina evident. 

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Musikalisch zeichnet Augusta Holmès wirkungsvoll Mirkos psychische Verwandlung nach: Die Entfernung von seiner Herkunftskultur und das Annähern an diejenige Yaminas finden ihren musikalischen Ausdruck in der Adaption eines Triolenmotives. Jenes chromatische und verzierungsreiche Melos der Yamina fungiert als musikalische Chiffre für die exotische Ebene respektive die türkische Heimat der Protagonistin, in Abgrenzung zur dreiklangbasierten diatonischen Musiksprache der Montenegriner. Mit dem Originalmotiv – bestehend aus einer Achteltriole gefolgt von zwei Achteln – wird Yamina bereits vor Betreten der Szene vom Orchester angekündigt. In der Auftrittsariette Yaminas erhält das Motiv dann seine symbolische Bedeutung und wird im weiteren Verlauf der Oper frei variiert wieder aufgegriffen. Demgegenüber erfolgt mit der hymnisch angelegten Vertonung des alexandrinischen Versmaßes des Blutsbrüderschwures – im wahrsten Sinne des Wortes – die Rückkehr zur Form: die im Unisono geführten Melodiestimmen des liedhaften Duetts stehen für die Gemeinsamkeit der Blutsbrüder, die im performativen Akt durch den Priester Sava gleichsam im Ritual einer Ehestiftung zu einem lebenslangen Bunde vereinigt werden. Gleichsam den Schluss der Oper antizipierend, ertönt es in der „Todestonart“ es-Moll. Bemerkenswert ist vor allem der Wechsel nach Dur wenn das Blutopfer zur Sprache kommt. Das Schwurmotiv wird selbstredend an den dramaturgisch zentralen Stellen der Oper, wenn Aslar an Mirkos Pflicht und Ehre appelliert, reminiszierend zitiert. Beim letzten Rettungsversuch reduziert Holmès das Zitat pointiert auf den für die Lösung des Konflikts entscheidenden Satzteil: „Fût-ce au prix de mon sang, ou fût-ce au prix du tien!“ | „Sei es um den Preis meines oder deines Blutes!“, hier als aufsteigender H-Dur-Dreiklang! 

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Die musikalische Couleur der Montenegriner konstituiert sich ferner u.a. durch das von Guzla-Spielern begleitete folkloristische Tanzdivertissement mit Trinkchor im ersten Akt. So dienen die beiden Festszenen zu Beginn (Akt I) und am Ende (Akt IV) denn auch als dramaturgische Klammer und kontrastieren sinnfällig die beiden Welten, die sich gleichsam als Pole diametral gegenüberstehen und zwischen denen Mirko unaufhörlich schwankt. Kommt dem ersten Trinkchor die Aufgabe zu, die normierte, konventionelle Welt der Montenegriner zu repräsentieren, so zeichnet der zweite Trinkchor die freie, ungebundene Sehnsuchtswelt des Helden, die Türkei. Beide Szenen kombinieren den Akt des Trinkens respektive des Sich-Berauschens, inkludieren Tanzeinlagen und lassen sich ebenso als dekoratives Moment, welches seit der Tragédie lyrique ein konstitutives Merkmal für Festszenen darstellt, wie als Flucht aus der Realität lesen. Als Aslar unterwartet erscheint und Mirko das mahnende Zitieren des Brüderschaftsschwurs negiert, kommt was kommen musste: „Mort, Viens nous réunir!“ | „Tod, komm‘ und vereinige uns!“. Charakteristisch für die meisten Opern jenes Typus‘ ist, dass sie nicht nur mit dem Tod des Helden, sondern auch mit demjenigen der femme fatale enden: Carmen wird von Don José erdolcht, Dalila befindet sich im Tempel, als Samson diesen zum Einsturz bringt, Genièvre sieht die letzte Vereinigung mit Lancelot im Tode und stirbt einen Liebestod und Thaïs stirbt in Reue über ihr vorheriges Leben. Die in der Literatur zur femme fatale häufig attestierte Affinität zum Tode trifft in La Montagne noire lediglich auf Mirko, nicht jedoch auf die femme fatale selbst zu. Sie wird am Ende nicht zur Rechenschaft gezogen und überlebt. Wie ist das zu deuten? Eine mögliche Lesart nimmt an, dass sich Yamina entzieht, sobald sie ihr Ziel erreicht hat: Als freie Person betrat sie die Bühne, als freie verlässt sie diese. Mirko wird in dem Moment uninteressant, in dem er sich gänzlich für sie entschieden hat und sie ihre Wünsche erfüllt sieht.

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Dieses Finale kann in einer gesellschaftskritischen Lesart als Kritik der Komponistin an den nach wie vor patriarchalischen Gesellschaftsformen und Rollenzuweisungen wie sie die Ideologie der Troisième Républiquekommunizierte, verstanden werden. In diesem Gefüge bildete die sog. femme nouvelle, hier durch Yamina symbolisiert, durchaus ein vom gesellschaftlichen Diskurs konstruiertes Feindbild. Wäre dieser Aspekt bereits Sprengstoff genug, so bildete der musikästhetische Diskurs um den französischen Wagnérisme eine weitere Bedeutungsebene, den die zeitgenössische Presse aufgriff und gleichsam hitzig wie kontrovers diskutierte. Das Spektrum der Presserezensionen zu La Montagne noire reichte von überschwänglich positiv bis zum Totalverriss, könnte also vielfältiger nicht sein und sagt letztlich mehr über die politische wie musikästhetische Verortung ihrer Autoren aus als über das Werk selbst. 

Und 129 Jahre später? Welche Relevanz hat heute die Repräsentation von Geschlecht bzw. Gender auf der Opernbühne und welche das Geschlecht der Opernschaffenden? Gestatten Sie mir eine letzte Frage: Wieviele Opern aus der Feder von Komponistinnen kennen Sie, verehrtes Publikum?

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© Nicole K. Strohmann

 

Der Text ist eine Preversion des Programmhefttextes zur Deutschen Erstaufführung am Opernhaus Dortmund, 13.01.202023 und basiert auf den Ausführungen in Nicole K. Strohmann: Gattung, Geschlecht und Gesellschaft im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Studien zur Dichterkomponistin Augusta Holmès (Hildesheim: Olms 2012)

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